Seit der Bronze- und Eisenzeit 3000 v. Chr. sammelt die Menschheit Erfahrungen in der Verarbeitung von Metallen, in der für Soft Actuators essenziellen Polymerchemie sind es lediglich wenige Jahrzehnte, in der Produktion von Soft Actuators nur wenige Jahre. Der lange Weg eines kleinen, grünen Aktuators verfolgt mich persönlich vom Fernsehbildschirm der 1980er in die Produkte der neuesten Zeit. Aber dieser Weg lohnt sich! Mit weichen Aktuatoren, die Strom oder Spannung in eine andere Energieform wie Druck, Temperatur oder Bewegung umwandeln können, ist es möglich, vollkommen neuartige, bessere und nachhaltigere Produkte zu entwickeln. Aber der Reihe nach – alles begann an einem Dienstagabend.
Einmal im Monat am Dienstagabend »Aus Forschung und Technik«
Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich als kleiner Junge nach dem Abendessen länger aufbleiben durfte, um fernzusehen. Es ist schon etwas länger her, die Programmauswahl war damals recht übersichtlich und es fällt mir recht leicht, die wichtigsten Sendungen aufzuzählen. Es gab Nachrichten, Rateshows, Krimis und Dokumentationen. Mit dieser Themenauswahl unterhielt sich die Familie, auf drei Kanälen verteilt, bis spätestens 23:00 Uhr. Dann zeigte ein mit einem schrillen Pfeifen untermaltes Testbild den »Sendeschluss« an. Und wen der Schlaf übermannt hatte, fuhr von der Couch hoch, als auf den Bildschirmen nur noch das berühmte »Ameisenrennen« zu sehen war.
Heute verfüge ich weit über 500 Kanäle, die rund um die Uhr Unterhaltung bieten. Aber keine dieser Sendungen konnte mich bisher so in den Bann ziehen wie damals »Aus Forschung und Technik«. In dieser Wissenschaftssendung wurden neuste technologische Errungenschaften aus aller Welt vorgestellt. Berichte über Computer, Raketen, Maschinen und vieles mehr moderierte der Moderater meist mit den Worten »Wissenschaftlern aus den USA ist es gelungen …« an. Eine Sendung jedoch war anders und ich weiß noch sehr genau, wie der Moderator über Japanische Wissenschaftler sprach. Japan hatte für den Großteil der Europäer einen ähnlichen Stellenwert wie der Mond oder der Mars. Wir wussten zwar, dass es Japan gibt, es gab Bücher und Reiseberichte, aber wir dachten alle, es ist vollkommen unmöglich jemals dorthin zu reisen. Japan war sehr, sehr weit weg von Pforzheim, wo ich ausgewachsen bin. Und in diesem Japan, so der Moderator, ist es Wissenschaftlern erstmalig gelungen einen »künstlichen Muskel«, genauer, einen Aktuator aus Gel aufzubauen.
Die Zukunft ruft!
Ohne ein einziges Mal zu blinzeln, habe ich staunend verfolgt, wie eine daumengroße, grüne gelartige Masse, offensichtlich provisorisch verdrahtet, einer Raupe nicht unähnlich, sich zusammenzog und langsam wieder entspannte. Für mich war klar, ich habe die Zukunft gesehen! Man muss wissen, damals waren Roboter in der Regel noch nicht in Werkhallen, sondern ausschließlich in Science-Fiction-Filmen zu sehen und es wurden die ersten Werkzeugmaschinen von reinem Handbetrieb auf Nummerische Kontrolle umgestellt. Kurzum, der daumengroße japanische Gel-Aktuator wirkte auf mich wie ein Hologramm von einem fernen Planeten, um uns Erdlingen zu zeigen, wie rückständig und plump unserer Technologie doch ist.
Jahrzehnte später kann ich sagen, wirklich rückständig war unser Maschinenbau nicht, ganz im Gegenteil: Die Maschinen sind immer leistungsfähiger und präziser geworden, Roboter sind nicht nur in Romanen und Filmen zu bewundern, sondern gehören als ein integraler Bestandteil zu unserer Forschung am Institut und sind ein etabliertes Produktionsmittel der Industrie.
Was aber ist aus dem kleinen grünen, japanischen künstlichen Muskel geworden? Ist er weitergewandert, in irgendeine Schublade womöglich und verschwunden? Oder hat der künstliche Muskel den Weg, wie damals prophezeit, in wichtige Anwendungen in der Medizintechnik und Robotik gefunden?
Vom grünen Däumling zum Soft Actuator
Die Idee, Bewegung und Kinematik nicht mehr mit Motoren und einer komplexen Kinematik zu erzeugen, sondern ein Gel als Aktuator zu verwenden, das beim Anlegen eines Stimulus eine Bewegung ausübt, hat zahllose Forscher in der ganzen Welt inspiriert. Gab es in den 1980er Jahren nur eine Handvoll Forscher auf der Welt, die sich mit zuckenden und bewegenden Kunststoffen und Gelen befassten, arbeiten heute etablierte Forschergruppen auf der ganzen Welt an »Soft Actuators«. Das Internet ist voll faszinierender Berichte und Videos weicher Aktuatoren, die ihr großes Einsatzpotenzial oft als Greifer demonstrieren. Auch Hollywood hat sich in dem Film aus dem Jahr 2014, »BAYMAX«, der Faszination der Soft Actuators bedient. Die Potenziale weicher Aktuatoren sind vielversprechend: sicher, leicht, geräuschlos, simpel im Aufbau und daher kostengünstig in der Herstellung.
Ich möchte nicht behaupten, dass sich die interessierte Öffentlichkeit an den vielen Videos zu Soft Actuators satt gesehen hätte. Meine kindliche Faszination jedoch, dass sich ein elektrisch verkabeltes Gel bewegen kann, teilen nur noch die wenigsten. Soft Actuators sind heute allgemein bekannt. Jetzt geht es um die Fragen, was solche Akuatoren im realen Einsatz leisten und wie sie hergestellt werden. So einfach die Technologie der Soft Actuators auf den ersten Blick erscheint, so komplex ist sie bei näherer Betrachtung.
Aktuator-Produktion am Fraunhofer IPA
Am Fraunhofer IPA in Stuttgart befassen wir uns nicht nur mit der Frage, was ein Soft Actuator alles kann oder potenziell könnte, sondern auch mit dessen Herstellung. Die meisten Aktuatoren werden heute von Hand hergestellt. So kann es durchaus vorkommen, dass die Herstellung eines Aktuators einen geübten Wissenschaftler für eine Woche auslastet. Ein Soft Actuator wird quasi in einer Manufaktur hergestellt. Das betrifft nicht nur Stückzahl und Herstellkosten, sondern auch leider die Qualität der Aktuatoren. Diese von Hand hergestellten Unikate schwanken in der Leistungsfähigkeit sehr. In der Regel sind Soft Actuators echte Individualisten und zeigen jeder für sich ein ganz spezifisches Aktuationsverhalten. Dass diese hohe Streuung in einer qualitätsorientierten Industrie nur schwer kommerziell umsetzbar ist, erfordert wenig Vorstellungskraft und erklärt warum Soft Actuators noch nicht am Markt erfolgreich vertreten sind.
Automatisierung hatte nicht nur die Aufgabe, Stückzahlen zu erhöhen und dadurch die Technologie zu demokratisieren. Durch reduzierte Herstellkosten kann eine neue Technologie leichter Einzug in ein breites Feld an Anwendungen finden – dieser Gedanke ist naheliegend. Mindestens genauso wichtig wie die Kosten einer neuen Technologie ist deren Qualität. Die Automatisierung ermöglicht eine höhere Präzision, indem die genannte manufakturtypische Streuung eliminiert wird. Das Fraunhofer IPA befasst sich als eines der wenigen Forschungsinstitute gezielt mit der Produktionstechnik neuer weicher Aktuatoren. Hierbei verfügen wir am Campus über exklusive Anlagentechnik, die einen nahezu nahtlosen Übertrag der Forschungsergebnisse in die industrielle Produktion ermöglicht.
Mit der Produktionstechnik können wir zwar den beschriebenen Weg des Soft Actuators nicht verkürzen, aber wir können seine Entwicklung heute wesentlich beschleunigen. Ich bin sehr glücklich, an einer so spannenden Thematik mitarbeiten zu dürfen und werde von den weiteren Fortschritten berichten. In der Württembergischen Landesbibliothek referiere ich zum Künstlichen Muskel am 23. September um 18 Uhr. Wenn Sie da schon etwas anderes vorhaben, melden Sie sich gerne zu einem persönlichen Gespräch. Lassen Sie sich von meiner Begeisterung anstecken!
Ivica Kolaric sagt:
Hallo Zusammen,
ich möchte mich ganz herzlich bei der Organisation für die diese tolle Chance einen Vortrag zu halten bedanken. Nach fast zwei Jahren rein virtuellen Vorträgen war dies mein erster in hybrider Form und ich habe die professionelle Betreuung und Durchführung sehr genossen.
„Künstliche Muskeln“ sind mir eine Herzensangelegenheit und ich freue mich wirklich sehr, dass dieses einstige „Nischenthema“ an Bedeutung gewonnen hat und sich in Baden-Württemberg eine Community aus Wissenschaft, Politik und Industrie formiert hat.
Und das ist auch gut so !
Um diese spannende Technologie in sinnvolle Innovationen zu übertragen, werden wir ein interdisziplinäres Team aus Chemikern, Programmieren, Maschinenbauern, Kybernetikern und vielen weiteren Bereichen benötigen.
In der Vergangenheit hat BW immer wieder bewiesen, dass sie exzellente Einzelkompetenzen der Industrie und Wissenschaft zu weltweit führenden Systemlösungen und Produkten zusammenführen kann und vielleicht sind künstliche Muskeln eine Chance diese Leistungskraft wieder unter Beweis zu stellen. Unser IPA EAP Team ist gerne mit dabei!
Vielen Dank nochmal an alle für diesen spannenden Nachmittag
Ivica Kolaric